Reine Nervensache

Im Bereich der Trainingsplanung und -steuerung hat sich in den letzten Jahrzehnten eine enorme Professionalisierung vollzogen. Diese ist nicht zuletzt auf die starke Zunahme von qualitativ hochwertigen (Online-)Quellen und Angeboten zurückzuführen, die einem breiten Nutzerkreis fundiertes Trainingswissen zugänglich machen. Zunehmend finden hier auch Ansätze aus den Neurowissenschaften Beachtung.

Bei Training, Rehabilitation und Wettkampf geht es um weit mehr als Knochen, Bänder und Sehnen. Ausschlaggebend ist vielmehr das perfekte Zusammenspiel von Psyche und Physis. Dabei häufig übersehen: unser Nervensystem.

Das Nervensystem als Teil der Trainingsplanung


(Spitzen-)Leistungen sind nur dann möglich, wenn alle Teile unseres Gesamtsystems perfekt zusammenspielen. Bei der Orchestrierung der einzelnen „Player“ nimmt das Nervensystem eine zentrale Rolle ein.

Für den Sportbereich ist dieses vor allem im Hinblick auf seine Einsatzmöglichkeiten als Brücke zwischen physischen und mentalen Aspekten von Interesse. Denn gerade im Spitzensport werden die physischen Unterschiede zwischen Athleten immer geringer, was eine verstärkte Hinwendung zum Mentalbereich zur Folge hat. Aktuell befinden wir uns allerdings noch in der Anfangsphase; hinsichtlich praktischer Umsetzung und konkreter Konzepte besteht vielfach noch Forschungs- und Entwicklungsbedarf.

Als Teilaspekte dieses generellen Trends lässt sich das Neurotraining bzw. die Neuroathletik sehen. Diese erlebt ebenfalls einen veritablen Boom mit einer Fülle von Programmen und Angeboten – leider auch verbunden mit erheblichen Schwankungen hinsichtlich Qualität und wissenschaftlich-methodischer Grundlage. Anspruch dieser Konzepte ist es, durch die Verbindung von Neuro- und Athletiktraining die Leistung zu steigern sowie das generelle körperliche Wohlbefinden und die Rehabilitation nach Verletzungen zu verbessern. Einsatz finden derartige Methoden mittlerweile in den verschiedensten Disziplinen. Doch bei der Frage, wie genau die Potenziale der Neuroathletik wirken und wo welche Methoden idealerweise zum Einsatz kommen, besteht derzeit an vielen Stellen noch weiterer Forschungsbedarf.

Neuroathletik – Definition und Einsatzbereiche


Ein kritischer Blick ist bereits bei der Frage angezeigt, was jeweils eigentlich mit Neuroathletik bzw. Neurotraining gemeint ist. Leider bleiben viele Definitionen dabei eher schwammig und vage. Erste (notwendige) Basis ist somit eine differenzierte Begriffsdefinition:

Die Methoden der Neuroathletik […] gehen davon aus, dass der menschliche Bewegungsapparat […] durch neurologische Abläufe, also die die Muskeln versorgenden Nerven und das Rückenmark bis hin zum Gehirn, das alle unsere Bewegungen steuert, direkt beeinflusst werden kann. Dabei kann das Instrumentarium der Neuroathletik nicht nur für die Rehabilitation bei Sportverletzungen, sondern auch zur Schmerzbekämpfung eingesetzt werden, wobei die Wirkmechanismen größtenteils noch nicht geklärt sind.

Diese Definition deutet bereits auf eine ersten möglichen Einsatzbereich hin: Rehabilitation nach Verletzungen sowie Schmerz-Management. Hier wird insbesondere auf die Stimulation des visuellen und propriozeptiven Systems sowie des Gleichgewichtssinns gesetzt.

Autonomes Nervensystem (ANS) & ventraler Vagus


Mit Blick auf den Fortschritt in benachbarten Disziplinen – insbesondere der (körperorientierten) Psychotherapie – lässt sich diese Perspektive um das autonome Nervensystem, hier speziell den (ventralen) Vagusnerv, erweitern. Zwar erfolgt bei vielen Ansätzen aus der Neuroathletik indirekt bereits eine Ansprache, etwa über bestimmte Augenbewegungen. Dies geschieht jedoch meist, ohne dass dem jeweiligen Sportler die dabei ablaufenden Prozesse wirklich bewusst wären. Ein tiefergehendes Wissen und Verständnis können dazu beitragen, die jeweiligen Vorgänge noch gezielter einzusetzen und zu nutzen.

Einen griffigen wie funktionalen Ansatz bietet hierfür die von Stephen Porges formulierte Polyvagaltheorie. Sie bildet den Ausgangspunkt für zahlreiche Anwendungskonzepte, von denen die meisten sich auf eine gezielte Aktivierung des ventralen Vagus konzentrieren. Für den Sport- und Trainingsbereich von besonderem Interesse sind Formate, die einen Zusammenhang herstellen zwischen einer Fehlfunktion der Vagus-Aktivierung und speziellen psychischen wie physischen Symptomen und Störungsbildern. Eine gezielte Aktivierung bzw. Stimulierung des ventralen Vagus – etwa über Augenbewegungen und Atemtechniken – kann therapeutisch wie präventiv eingesetzt werden und eine Vielzahl von Symptomen lindern bzw. gewünschte Zustände fördern.

Bottom-up-Regulation für Ausgleich und Balance


Das Potenzial von Techniken, die auf dem ANS bzw. der Stimulierung des ventralen Vagus basieren, ist jedoch bei Weitem nicht auf den Bereich der Therapie und Rehabilitation beschränkt. Eine weitere Einsatzmöglichkeit findet sich in den Bereichen Wettkampf und Wettkampfvorbereitung. Hier spielen – neben der rein physischen Verfassung – zwei Faktoren eine zentrale Rolle: die Erholungs- und Entspannungsfähigkeit eines Athleten, etwa vor einem Wettkampf oder zwischen einzelnen Durchgängen, sowie das „Mindset“ vor und im Wettkampf selbst. An dieser Stelle wird das Zusammenspiel physischer wie psychischer Faktoren besonders deutlich: Durch die Bottom-up-Weiterleitung von physischen Informationen an das Gehirn entstehen bestimmte Denkmuster und emotionale Reaktionen. Das bedeutet: Der Körper beeinflusst in diesem Fall unser Denken und unser Fühlen und nicht umgekehrt. Wollen wir beispielsweise Nervosität reduzieren, hilft es wenig, sich selbst mental den Befehl zu geben, nicht aufgeregt zu sein oder keine Angst zu haben. Weitaus effektiver ist es, über den Körper ans Gehirn zu signalisieren, dass keine Notwendigkeit für dieses Maß an Aufregung oder Angst besteht und so – bottom-up – die Psyche über den Körper zu regulieren.

Verständnis vorausgesetzt


Hierfür ist es notwendig, Sportler in die Lage zu versetzen, die entsprechenden Phänomene wahrzunehmen, zu verstehen und adäquat darauf zu reagieren. Eine mögliche Vorgehensweise bietet das auf der Polyvagaltheorie basierende vierstufige Modell von Deb Dana: 1. Befriending the Nervous System, 2. Mapping the Nervous System, 3. Navigating the Nervous System, 4. Shaping the Nervous System

Die ersten beiden Stadien zielen verstärkt auf Psychoedukation und (Selbst-)Analyse ab. Mit den Schritten drei und vier geht es in den Bereich der praktischen Anwendung und Umsetzung. Hier wird dem Sportler vermittelt, wie – beispielsweise durch Atemübungen, Bewegungs- und Imaginationstechniken – die einzelnen Zustände des Nervensystems beeinflusst werden können. Ziel ist es, die Situation zu erkennen, die Reaktion darauf zu bewerten und bei Bedarf regulierend einzugreifen. Dies kann sowohl in Richtung Ruhe und Entspannung, als auch hin zu mehr Dynamik und Aktivität geschehen, den Sportler also aus Zuständen des hypo- wie hyper-arousals herausführen. Ein großer Vorteil in der praktischen Anwendung besteht dabei darin, dass die genannten Techniken vollständig ohne technische Hilfsmittel auskommen und sich vielfach auch direkt in Wettkampfsituationen ausführen lassen. Der Sportler erhält somit ein wertvolles Werkzeug zur Selbstregulierung, das in einer Vielzahl von Situationen zum Einsatz gebracht werden kann.

Abbildung: Mopic / shutterstock.com
Quelle: shape UP 3/2023
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